FRANKFURT (dpa-AFX) - 14 Jahre nach der Insolvenz von Lehman Brothers hat sich der Zertifikatemarkt mehr als gefangen. Die Branche ist zwar in puncto Marktvolumen ein gutes Stück entfernt von ihren historischen Bestmarken, doch die heftigen Kursschwankungen an den Börsen in den letzten Monaten führten nicht zu spürbaren Abflüssen. Im Gegenteil; gerade in der aktuell schwierigen Börsenphase in einem Umfeld steigender Zinsen gewinnen einige Zertifikatetypen wieder an Attraktivität.

"Anlagezertifikate sind ganz überwiegend Produkte, die durch die ihre Strukturierung das Risiko des zugrundeliegenden Basiswerts reduzieren", erklärt Lutz Johanning, Professor für Kapitalmarktforschung an der WHU - Otto Beisheim School of Management in Vallendar bei Koblenz und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Deutschen Derivate Verbandes (DDV). "Das heißt, die Produkte verlieren in diesem ökonomischen Umfeld weniger an Wert." Davon sollte der Markt eher profitieren.

Anlagezertifikate und die riskanteren, nur für sehr erfahrene Privatanleger geeigneten, Hebelprodukte beziehen sich immer auf einen oder mehrere sogenannte Basiswerte, meist börsennotierte Wertpapiere oder Indizes, aber auch Rohstoffe oder Kryptowährungen sind möglich. Somit können Anleger mit Zertifikaten je nach Risikoneigung investieren und spekulieren.

Wer derzeit ohne Netz und doppelten Boden etwa in den breiten Aktienmarkt einsteigen will, braucht starke Nerven: Eilten die Börsen noch im letzten Jahr von einem Rekord zum anderen, haben mittlerweile die Pessimisten das Zepter übernommen. So hat der deutsche Leitindex Dax seit seinem Rekordhoch bei gut 16 290 Punkten im November rund ein Fünftel an Wert verloren. Gründe dafür sind unter anderem die Furcht vor zu stark steigenden Leitzinsen im Kampf gegen die hohe Inflation sowie anhaltende Lieferkettenstörungen im Zuge der Corona-Pandemie und des Ukraine-Krieges.

In einem solchen Umfeld werden Johanning zufolge die sogenannten Discount-Zertifikate günstiger, weil sie wegen der derzeit starken Marktschwankungen einen hohen Abschlag auf den aktuellen Kurs des Basiswertes bieten können. Damit ist sogar auch bei weiteren Kursverlusten des Basiswertes, etwa einer Aktie, noch eine kleine Rendite möglich. Allerdings nur bis der Aktienkurs auf eine zuvor festgelegte Schwelle fällt, ohne Risiko ist das also nicht. Gleichzeit sind die Gewinne oft auf einen Höchstbetrag begrenzt, was bei Discount-Zertifikaten im Fall einer Erholung der zugrundeliegenden Aktie gleichzeitig das Renditepotenzial begrenzt.

Dass sich die deutsche Zertifikate-Branche im aktuellen Umfeld insgesamt recht wacker schlägt, zeigt die Entwicklung des Marktvolumens: Dieses liegt seit Anfang 2021 konstant zwischen 73 und 74 Milliarden Euro. Von Werten deutlich über 100 Milliarden Euro kurz vor und einige Jahre nach der Insolvenz von Lehman Brothers aber ist die Branche weit entfernt.

Das liegt auch am Niedrigzinsumfeld der vergangenen Jahre, in dem die einstigen Verkaufsschlager weniger gefragt waren. Denn Produkte wie Kapitalschutz-Zertifikate und Strukturierte Anleihen bieten zwar eine hundertprozentige Rückzahlung des eingesetzten Kapitals zum Laufzeitende, in Zeiten steigender Aktienkurse und Minizinsen greifen viele Anleger dann aber eher direkt am Aktienmarkt zu.

Mit der nun begonnenen Zinswende verbindet sich die Hoffnung, dass insbesondere Strukturierte Anleihen wieder attraktive Zinszahlungen liefern können. Das Marktvolumen dieser Produktgattung zieht bereits langsam an. Rasantes Wachstum aber liegt wohl noch in weiter Ferne, denn der Realzins - also die Rendite unter Berücksichtigung der Inflation - ist immer noch deutlich negativ.

Darüber hinaus fragen sich Anleger auch, ob die Zertifikate-Branche genug nachhaltige Produkte im Angebot hat oder die Produkte generell zu teuer sind. Beide Aspekte werden derzeit stark von der politischen Regulierung der Finanzmärkte bestimmt.

Damit die Anleger Finanzprodukte besser verstehen und vergleichen können, verlangen europäische Verordnungen denn auch vollständige Kostentransparenz.

Beim Thema Nachhaltigkeit müssen Bankberater mittlerweile auch auf die Nachhaltigkeitspräferenzen ihrer Kunden eingehen. Zudem müssen "Strukturierte Wertpapiere mit Nachhaltigkeitsmerkmalen" laut dem DDV nachvollziehbaren Standards genügen.

Laut Alexandra Jour-Schröder, Stellvertretende Generaldirektorin der Generaldirektion der Europäischen Kommission für Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion, sind allerdings mehr Informationen dazu nötig, welchen Beitrag die Branche konkret leisten kann, um das Klima und die Umwelt besser zu schützen.

Einen optimistischen Blick in die Zukunft wagt Andrea Vathje, Zertifikate-Expertin bei der Ratingagentur Scope. Zwar habe das volatile und schwierige Marktumfeld 2022 dazu geführt, dass die Börsenumsätze im zweiten Quartal dieses Jahres etwas zurückgegangen seien, doch lägen sie an den deutschen Zertifikatebörsen immer noch höher als vor Corona. "Schaut man sich die Kunden der Neobroker an, so sind diese typischerweise relativ jung und haben noch nicht die Kapitalausstattung, um in Anlagezertifikate zu investieren. In zehn Jahren kann dies allerdings ganz anders aussehen und weiteres Potenzial" bedeuten./la/ag/mis

- Von Lutz Alexander, dpa-AFX -

Quelle: dpa-AFX