Stock-to-Flow-Modell (S2F) Börsenlexikon Vorheriger Begriff: MiCA-Verordnung (Markets in Crypto-Assets) Nächster Begriff: Stablecoins
Ein innovativer und leicht verständlicher Zugang zur Bewertung knapper Güter wie Bitcoins
Das Stock-to-Flow-Modell (kurz: S2F) ist ein quantitativer Ansatz zur Bewertung knapper Güter, insbesondere von Rohstoffen wie Gold, Silber und in jüngerer Zeit auch von Kryptowährungen wie Bitcoin. Es wurde durch den pseudonymen Analysten „PlanB“ im Jahr 2019 bekannt und hat seither breite Aufmerksamkeit in der Finanz- und Kryptowelt erlangt. Das Modell basiert auf der Idee, dass der Preis eines Gutes maßgeblich durch seine Knappheit bestimmt wird – und diese Knappheit lässt sich mathematisch über das Verhältnis von vorhandenem Bestand („Stock“) zur jährlichen Neuproduktion („Flow“) ausdrücken.
Die Grundannahme des Modells lautet: Je höher der Stock-to-Flow-Wert eines Vermögenswerts, desto knapper ist dieser, und desto höher sollte sein Marktpreis sein. Das S2F-Modell versucht, diesen Zusammenhang empirisch zu belegen und prognostiziert darauf basierend künftige Preisentwicklungen, insbesondere im Fall von Bitcoin.
Definition und mathematische Grundlage
Die zentrale Formel des Modells lautet:
Dabei bedeutet:
- Stock: Die aktuell vorhandene Gesamtmenge eines Vermögenswerts, die verfügbar und nicht verbraucht ist.
- Flow: Die Menge, die innerhalb eines Jahres neu produziert bzw. geschaffen wird.
Ein hoher S2F-Wert bedeutet, dass die jährliche Produktion im Vergleich zum bestehenden Bestand sehr gering ist – also ein Zeichen hoher Knappheit.
Beispiel: Gold und Silber
Gold hat einen sehr hohen S2F-Wert, da es seit Jahrtausenden abgebaut, aber kaum verbraucht wird. Der gesamte Bestand an Gold (ca. 200.000 Tonnen) wächst jährlich nur um rund 3.000 Tonnen. Daraus ergibt sich ein S2F von:
Das bedeutet: Es würde über 66 Jahre dauern, den aktuellen Goldbestand bei gleichbleibender Förderung zu verdoppeln. Bei Silber liegt der S2F-Wert etwa bei 20, da es stärker industriell genutzt und verbraucht wird.
Anwendung auf Bitcoin
Besondere Bekanntheit erlangte das Stock-to-Flow-Modell durch seine Anwendung auf Bitcoin. Der Grund: Die Bitcoin-Protokollregeln sorgen für eine künstliche Verknappung durch ein festes Emissionsschema.
Die maximale Anzahl von Bitcoins ist auf 21 Millionen begrenzt. Neue Bitcoins entstehen durch Mining, wobei die Zahl der neuen Coins alle vier Jahre durch das sogenannte „Halving“ halbiert wird. Dadurch sinkt der jährliche Flow mit der Zeit.
Zum Beispiel (Stand 2024):
- Stock (Bestand): ca. 19,5 Millionen BTC
- Flow (jährliche Produktion): ca. 328.500 BTC (pro Tag 900 BTC × 365)
Nach dem nächsten Halving im Jahr 2024 halbiert sich der Flow auf ca. 164.250 BTC, wodurch der S2F-Wert auf etwa 119 steigen wird. Ein derart hoher Wert übertrifft sogar den von Gold – was im Modell auf eine potenziell noch höhere Bewertung hindeutet.
Empirische Preisprognosen im S2F-Modell
PlanB entwickelte auf Basis des S2F-Wertes ein Regressionsmodell, das die historischen Bitcoin-Preise in Relation zu ihrem S2F-Wert setzt. Die zugrunde liegende Gleichung hat die Form einer Potenzfunktion:
Dabei ist:
- der Preis von Bitcoin in US-Dollar,
- empirisch bestimmte Regressionsparameter.
Durch diese logarithmische Skalierung lassen sich über mehrere Größenordnungen hinweg lineare Zusammenhänge visualisieren und untersuchen. In der ursprünglichen Version des Modells konnte der Bitcoin-Preis zwischen 2011 und 2019 erstaunlich genau durch diese Funktion approximiert werden.
Varianten des Modells
Eine Weiterentwicklung ist das „S2FX“-Modell (Stock-to-Flow Cross Asset), das verschiedene Phasen des Bitcoin-Marktes („Regimes“) mit unterschiedlichen Bewertungsniveaus modelliert. Dieses Modell versucht, Bitcoin als Asset-Klasse mit anderen knappen Gütern wie Gold oder Immobilien vergleichbar zu machen und prognostiziert langfristig deutlich höhere Preisniveaus.
Stärken des Modells
Das S2F-Modell hat mehrere Stärken:
- Einfachheit: Die Formel ist leicht verständlich und beruht auf ökonomischen Prinzipien wie Angebot und Knappheit.
- Transparenz: Die zugrunde liegenden Daten sind öffentlich verfügbar und nachvollziehbar.
- Langfristige Perspektive: Das Modell ist auf langfristige Entwicklungen ausgelegt und ignoriert kurzfristige Volatilität.
Kritik am Stock-to-Flow-Modell
Trotz seiner Popularität steht das Modell auch in der Kritik:
- Überbetonung von Angebot: Das Modell berücksichtigt nur die Angebotsseite (Stock und Flow), ignoriert aber die Nachfrageseite vollständig. Marktpreise entstehen jedoch aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage.
- Veränderliche Marktbedingungen: Politische Regulierungen, technische Probleme oder gesellschaftliche Veränderungen können den Wert von Bitcoin unabhängig vom S2F-Wert beeinflussen.
- Empirische Abweichungen: In den Jahren 2021–2023 wich der tatsächliche Bitcoin-Preis deutlich von den durch S2F prognostizierten Werten ab. Kritiker sehen darin ein Scheitern des Modells.
- Regressionsfehler: Die hohe Korrelation in der Vergangenheit bedeutet nicht automatisch kausale Zusammenhänge. Es besteht die Gefahr einer Scheinkorrelation.
- Nicht-anwendbar auf inflationsfähige Währungen: Für Fiatgeld wie den US-Dollar oder den Euro ist das Modell ungeeignet, da keine feste Obergrenze existiert.
Vergleich mit anderen Bewertungsmodellen
Das S2F-Modell ist nur eines von mehreren Ansätzen zur Bewertung von Bitcoin und anderen digitalen Vermögenswerten. Weitere Modelle sind:
- Discounted Cash Flow (DCF): Für Cashflow-generierende Assets wie Aktien geeignet, nicht jedoch für Bitcoin.
- Metcalfe's Law: Bewertet den Wert eines Netzwerks anhand der Anzahl seiner Nutzer (Netzwerkeffekt).
- On-Chain-Datenanalyse: Bewertet Marktzyklen durch Nutzerdaten wie Transaktionsvolumen oder Wallet-Aktivität.
- Behavioral Models: Versuchen, psychologische Faktoren und Herdenverhalten zu quantifizieren.
Fazit
Das Stock-to-Flow-Modell bietet einen innovativen und leicht verständlichen Zugang zur Bewertung knapper Güter wie Bitcoin. Es stützt sich auf das ökonomische Prinzip der Knappheit und projiziert daraus langfristige Preisentwicklungen. Insbesondere in den Anfangsjahren von Bitcoin zeigte das Modell eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit den realen Kursverläufen. Dennoch darf es nicht als alleiniger Indikator für Investitionsentscheidungen herangezogen werden, da es die Nachfrageseite und externe Einflussfaktoren weitgehend ignoriert. In der Praxis sollte das S2F-Modell als ergänzendes Werkzeug verstanden werden, das in Kombination mit anderen Analysen genutzt wird, um fundierte Einschätzungen über die Entwicklung digitaler Vermögenswerte zu treffen.