Cantillon-Effekt Börsenlexikon Vorheriger Begriff: ERC-721 (Ethereum) Nächster Begriff: Bitcoin-Bürgerkrieg

Ein wirtschaftliches Phänomen, bei dem die Einführung neuer Geldmengen in die Wirtschaft zu ungleichen Preissteigerungen führt, da die ersten Empfänger des Geldes vor der Inflation von erhöhtem Kaufkraft profitieren, während spätere Empfänger höhere Preise zahlen müssen

Der Cantillon-Effekt beschreibt ein wirtschaftliches Phänomen, bei dem neu geschaffene Geldmengen nicht gleichmäßig und gleichzeitig in einer Volkswirtschaft verteilt werden, sondern bestimmten Marktteilnehmern früher zufließen als anderen. Benannt ist der Effekt nach dem irisch-französischen Ökonomen Richard Cantillon (ca. 1680–1734), der dieses Prinzip bereits im 18. Jahrhundert in seinem Werk Essai sur la nature du commerce en général darlegte. Der zentrale Gedanke lautet, dass der Ort und die Reihenfolge des Geldzuflusses maßgeblich beeinflussen, wer von einer Geldmengenausweitung profitiert und wer unter ihr leidet.

Mechanismus des Cantillon-Effekts

Wird in einer Volkswirtschaft neues Geld geschaffen – beispielsweise durch die Zentralbank im Rahmen einer expansiven Geldpolitik – gelangt es nicht sofort zu allen Wirtschaftssubjekten. Stattdessen fließt es zunächst zu bestimmten Akteuren, etwa Banken, staatlichen Stellen, großen Unternehmen oder anderen Institutionen, die direkten Zugang zu den neu geschaffenen Mitteln haben. Diese sogenannten Erstempfänger können das Geld ausgeben oder investieren, bevor sich die durch die zusätzliche Geldmenge ausgelösten Preissteigerungen in der gesamten Wirtschaft bemerkbar machen.

Durch diese zeitliche Verzögerung profitieren die Erstempfänger von noch nicht gestiegenen Preisen, während Spätempfänger oder die breite Bevölkerung erst dann Zugang zu zusätzlichem Geld erhält, wenn die Preise bereits angestiegen sind. Auf diese Weise kommt es zu einer Umverteilung von Kaufkraft zugunsten der Erstempfänger und zulasten der Letztempfänger.

Ablauf in vereinfachter Form

  1. Geldschöpfung: Neue Geldmenge wird in Umlauf gebracht, z. B. durch den Kauf von Staatsanleihen durch die Zentralbank.

  2. Erstempfang: Bestimmte Akteure (Banken, Finanzinstitute, große Unternehmen) erhalten als erste Zugriff auf das neue Geld.

  3. Frühzeitige Ausgaben: Diese Akteure tätigen Investitionen oder Käufe zu alten Preisen.

  4. Preisreaktion: Durch zusätzliche Nachfrage steigen die Preise in den betroffenen Märkten zuerst (z. B. Immobilien, Aktien, Rohstoffe).

  5. Verbreitung der Preissteigerung: Nach und nach verteilen sich sowohl das neue Geld als auch die Preissteigerungen auf andere Teile der Wirtschaft.

  6. Letztempfang: Haushalte oder kleine Unternehmen, die später Zugang zum neuen Geld erhalten, sehen sich bereits höheren Preisen gegenüber und profitieren nicht in gleichem Maße.

Wirkung auf Preise und Märkte

Der Cantillon-Effekt impliziert, dass Inflation nicht gleichmäßig auf alle Güter und Märkte wirkt. Statt einer proportionierten Preissteigerung kommt es zu relativen Preisänderungen. Bestimmte Sektoren (z. B. Finanzmärkte oder Immobilienmärkte) können frühzeitig starke Preisimpulse erfahren, während Konsumgüterpreise erst verzögert reagieren. Diese ungleichmäßige Anpassung kann wirtschaftliche Strukturen verzerren, etwa durch eine Überallokation von Kapital in spekulative Anlagen.

Verteilungswirkungen

Die ungleiche zeitliche Verteilung des neu geschaffenen Geldes hat eine umverteilende Wirkung:

  • Gewinner sind typischerweise Akteure mit direktem Zugang zu neuem Geld, da sie vor der allgemeinen Preissteigerung investieren und Vermögenswerte erwerben können.

  • Verlierer sind oft Lohnempfänger, Rentner und kleinere Unternehmen, die später oder gar nicht von der zusätzlichen Geldmenge profitieren, aber bereits von höheren Lebenshaltungskosten betroffen sind.

Dieser Mechanismus führt zu einer Verstärkung von Einkommens- und Vermögensungleichheit, sofern die Erstempfänger strukturell wohlhabender sind als die Letztempfänger.

Verbindung zur modernen Geldpolitik

Der Cantillon-Effekt ist in der aktuellen wirtschaftspolitischen Diskussion besonders relevant im Kontext von Quantitative Easing (QE) und anderen expansiven geldpolitischen Maßnahmen. Zentralbanken schaffen in diesen Fällen große Mengen an Liquidität, die häufig zunächst in den Finanzsektor fließen. Beobachtungen in den letzten Jahren deuten darauf hin, dass Vermögenspreise (Aktien, Immobilien) oft deutlich schneller steigen als Konsumgüterpreise – ein typisches Muster, das Cantillon bereits theoretisch beschrieben hat.

Kritische Perspektiven

Während der Cantillon-Effekt in der österreichischen und monetaristischen Wirtschaftstheorie breite Anerkennung findet, gibt es auch kritische Stimmen:

  • Einige Ökonomen argumentieren, dass der Effekt in offenen Volkswirtschaften mit globalem Kapitalfluss weniger stark ausgeprägt sei, da neues Geld sich rasch international verteilen könne.

  • Keynesianisch geprägte Ansätze sehen im Cantillon-Effekt zwar eine mögliche kurzfristige Umverteilung, betonen jedoch, dass expansive Geldpolitik langfristig Wachstumsimpulse setzen könne, die breitere Bevölkerungsschichten erreichen.

Gleichwohl wird der Cantillon-Effekt in der empirischen Analyse von Inflations- und Geldpolitik zunehmend berücksichtigt, um die unterschiedlichen Auswirkungen auf Vermögens- und Konsumgütermärkte zu verstehen.

Beispielhafte Illustration

Angenommen, eine Zentralbank kauft Staatsanleihen im Wert von 100 Mrd. Euro von Geschäftsbanken. Diese Banken investieren das erhaltene Geld in Immobilienkredite und Unternehmensanleihen. Immobilienpreise steigen schnell, Aktienkurse ziehen an. Erst Monate später erreichen höhere Einkommen durch Lohnverhandlungen die breite Bevölkerung – zu diesem Zeitpunkt sind Wohn- und Lebenshaltungskosten bereits gestiegen, was die reale Kaufkraft mindert. Dieses Muster veranschaulicht die zeitliche Staffelung und die asymmetrischen Vorteile des Effekts.

Fazit

Der Cantillon-Effekt verdeutlicht, dass Geldmengenveränderungen nicht neutral wirken, sondern die wirtschaftliche Verteilung und relative Preisstrukturen beeinflussen. Die Reihenfolge, in der neues Geld in Umlauf kommt, ist entscheidend dafür, wer von einer expansiven Geldpolitik profitiert und wer reale Verluste erleidet. In modernen Volkswirtschaften, in denen Zentralbanken gezielt Liquidität in den Finanzsektor leiten, lassen sich die von Cantillon beschriebenen Mechanismen häufig beobachten. Damit ist der Effekt ein wichtiger analytischer Rahmen zur Beurteilung der Verteilungswirkungen geldpolitischer Entscheidungen.