Neutralitätsgebot (§ 33 WpÜG) Börsenlexikon Vorheriger Begriff: EU-Listing-Verordnung Nächster Begriff: Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG)

Eine gesetzliche Pflicht für Vorstand und Aufsichtsrat eines Zielunternehmens, nach Ankündigung eines Übernahmeangebots keine Maßnahmen zu ergreifen, die den Erfolg des Angebots vereiteln könnten, es sei denn, die Hauptversammlung genehmigt sie ausdrücklich

Das Neutralitätsgebot gemäß § 33 des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes (WpÜG) ist ein zentrales Regelungsprinzip im deutschen Übernahmerecht. Es verpflichtet die Leitung eines Zielunternehmens, während eines öffentlichen Übernahmeangebots oder eines Pflichtangebots grundsätzlich zu einer neutralen Haltung gegenüber dem Angebot. Ziel dieser Regelung ist es, die Entscheidung über die Annahme oder Ablehnung eines Übernahmeangebots in die Hände der Aktionäre zu legen und unzulässige Behinderungen durch das Management der Zielgesellschaft zu verhindern.

Das WpÜG wurde im Jahr 2002 in Kraft gesetzt und bildet die gesetzliche Grundlage für öffentliche Übernahmen börsennotierter Gesellschaften in Deutschland. § 33 WpÜG konkretisiert dabei die Verhaltenspflichten des Vorstands (bei einer Aktiengesellschaft) beziehungsweise der Geschäftsführung (bei anderen Rechtsformen) einer Zielgesellschaft während der Angebotsphase.

Regelungsinhalt des § 33 WpÜG

Gemäß § 33 Absatz 1 WpÜG darf die Leitung der Zielgesellschaft nach der Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots (§ 10 WpÜG) bis zur Veröffentlichung des Ergebnisses des Angebots (§ 23 WpÜG) keine Handlungen vornehmen, durch die der Erfolg des Angebots verhindert werden könnte. Ausgenommen hiervon sind Maßnahmen, die:

  1. zur ordnungsgemäßen Führung der Geschäfte erforderlich sind,

  2. bereits vor Bekanntgabe des Angebots eingeleitet wurden, oder

  3. von der Hauptversammlung mit Zustimmung von mindestens 75 % des vertretenen Grundkapitals beschlossen wurden.

Diese Regelung soll sicherstellen, dass das Management während des Übernahmeprozesses keine Maßnahmen ergreift, die in erster Linie dem Schutz der eigenen Position dienen, etwa durch sogenannte Abwehrmaßnahmen.

Zweck und Funktion des Neutralitätsgebots

Das Neutralitätsgebot verfolgt das Ziel, die Entscheidung über die Annahme oder Ablehnung eines Übernahmeangebots auf die Anteilseigner zu konzentrieren. Es basiert auf der Überlegung, dass in einer börsennotierten Gesellschaft letztlich die Eigentümer – also die Aktionäre – über die zukünftige Struktur des Unternehmens entscheiden sollten und nicht das Management, das in der Regel kein eigenes Kapitalrisiko trägt.

Daraus ergibt sich eine zentrale Schutzfunktion: Das Gebot verhindert, dass sich das Management durch Maßnahmen wie Kapitalerhöhungen, Erwerb eigener Aktien, Verkauf wesentlicher Vermögenswerte oder feindliche Gegenangebote übermäßig in den Übernahmeprozess einmischt. Solche Maßnahmen könnten den wirtschaftlichen Wert des Angebots für die Bieterin verändern oder das Angebot ganz vereiteln.

Zulässige Maßnahmen nach § 33 Absatz 1 Satz 2 WpÜG

Das Gesetz lässt jedoch bestimmte Maßnahmen ausdrücklich zu, sofern sie durch die laufende Geschäftstätigkeit oder durch die Hauptversammlung legitimiert sind:

  1. Ordnungsgemäße Geschäftsführung: Handlungen, die zur Aufrechterhaltung des gewöhnlichen Geschäftsbetriebs notwendig sind, bleiben erlaubt. Dazu zählen etwa operative Entscheidungen wie der Einkauf von Rohstoffen oder das Einstellen von Personal, sofern sie dem bisherigen Geschäftskurs entsprechen.

  2. Vorher eingeleitete Maßnahmen: Projekte oder Transaktionen, die bereits vor dem Bekanntwerden des Übernahmeangebots beschlossen oder eingeleitet wurden, gelten nicht als Umgehung des Neutralitätsgebots. Voraussetzung ist, dass sie in einem fortgeschrittenen Stadium sind und nicht nur hypothetisch in Betracht gezogen wurden.

  3. Zustimmung der Hauptversammlung: Das Gebot kann durchbrochen werden, wenn die Hauptversammlung einer Maßnahme mit qualifizierter Mehrheit zustimmt. Diese Ausnahmeregelung stärkt die Entscheidungskompetenz der Aktionäre und stellt sicher, dass nicht das Management allein über grundlegende Weichenstellungen entscheidet.

Verhältnis zu anderen Rechtsgrundlagen und zur Praxis

Das Neutralitätsgebot steht im Spannungsfeld zu anderen gesellschaftsrechtlichen Vorschriften, insbesondere zur Pflicht des Vorstands zur Sorgfalt und zur Förderung des Unternehmenswohls gemäß § 93 AktG. In der Praxis kann die Abgrenzung zwischen neutralem Verhalten und unzulässiger Einmischung schwierig sein, insbesondere bei Maßnahmen, die sowohl eine betriebswirtschaftliche als auch eine übernahmepolitische Komponente aufweisen.

Ein weiteres Spannungsfeld ergibt sich im internationalen Vergleich. Das deutsche Übernahmerecht orientiert sich am sogenannten „neutrality rule“-Modell, während etwa im US-amerikanischen Recht die Möglichkeit aktiver Abwehrmaßnahmen des Managements wesentlich weiter gefasst ist („management friendly approach“). Auch innerhalb der Europäischen Union ist das Neutralitätsgebot durch die Richtlinie 2004/25/EG über Übernahmeangebote (Takeover-Richtlinie) geregelt, allerdings steht es den Mitgliedstaaten frei, dieses Gebot verpflichtend umzusetzen oder lediglich fakultativ anzuwenden. Deutschland hat sich für eine verbindliche Umsetzung entschieden.

Praxisrelevanz und Kritik

In der Praxis hat das Neutralitätsgebot erhebliche Bedeutung für die strategische Ausrichtung von Zielunternehmen während einer Übernahme. Es beeinflusst nicht nur die Möglichkeiten zur Abwehr, sondern auch die Kommunikation mit Aktionären, Arbeitnehmern und der Öffentlichkeit.

Kritiker des Gebots bemängeln, dass es die Zielgesellschaft in eine passive Rolle zwingt und damit legitime Schutzinteressen – etwa im Fall feindlicher Übernahmen oder bei unzureichender Gegenleistung – nicht ausreichend berücksichtigt. Befürworter sehen darin jedoch einen wichtigen Mechanismus zur Sicherung der Entscheidungsfreiheit der Aktionäre und zur Vermeidung von Machtmissbrauch durch das Management.

Fazit

Das Neutralitätsgebot nach § 33 WpÜG ist ein zentrales Element des deutschen Übernahmerechts und dient dem Schutz der Aktionärsrechte im Kontext öffentlicher Angebote. Es verpflichtet die Leitung des Zielunternehmens zu einer weitgehend passiven Haltung während der Angebotsphase und verhindert einseitige Maßnahmen, die den Ausgang des Übernahmeverfahrens beeinflussen könnten. Zugleich ermöglicht es durch bestimmte Ausnahmen eine kontrollierte Flexibilität, insbesondere durch die Einbindung der Hauptversammlung. Im europäischen Kontext stellt das Gebot eine konsequente Umsetzung des Aktionärsschutzgedankens dar und trägt zur Transparenz und Fairness von Übernahmeprozessen bei.